Was braucht der Mensch zum Glück?
Die Unergründlichkeit des Glücks im Bildungshaus Schloss St. Martin
Verstehen wollen
„Wer unsere Gesellschaft verstehen will, muss Fragen stellen, das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl an Menschen, du weißt. (...) ich werde zehn Leute an zehn Orten befragen, ich werde herausfinden, woher diese Unzufriedenheit kommt, diese Angst, die manche in die falsche Richtung treibt."
Mit diesem Vorhaben beginnt der pensionierte Lehrer Karl Herrmann - Protagonist in Anna Weidenholzers Roman "Weshalb die Herren Seesterne tragen" (2016) - seine Reise in den ersten Ort. So penibel er sich aber auf die Interviews vorbereitet, so wenig folgen seine Gesprächspartner der erwarteten Ordnung. Sie antworten ausweichend, stellen selbst Fragen oder stoßen auf der Suche nach Ursachen und Begründungen in sich selbst auf Schweigen. Die Wege zum Glück, so es diese denn gibt, führt über unmarkierte Pfade. Kein Wunder, dass sich Karl Herrmann im ersten Ort verfängt. Verstehen braucht Zeit, das Teilen - von Geschichten, Biographien, Innerem und Äußerem - reift bedächtig, die Vermessung des Menschen kommt nicht an ihr Ende. Zu unterschiedlich sind dafür die Quellen des Glücks, zu vielfältig die Lebensentwürfe der Glücklichen wie jene der Unglücklichen. Das führt mitunter zu Beliebigkeit und zweifelhafter Gleichmacherei. Exemplarisch: Eine Gesprächspartnerin in Weidenholzers Roman mit einem Glücksheft, in das sie „alle schönen Momente schreibt". „Heute früher aus der Arbeit gekommen. Markus hat angerufen. Leichen vor Lampedusa, hier blüht der Klee. (...) Der Kuchen ist gut gelungen. Was für ein Kuchen! Hautcreme überraschend im Sonderangebot. Frau auf der Bundesstraße überfahren, zum Glück kenne ich sie nicht." Spiegelt sich im Glück, ganz dialektisch gedacht, also immer auch das Unglück? Und wenn ja: Das eigene oder das fremde Unglück? Wie fragil wird dadurch das größtmögliche Glück? Oder fehlt uns im Deutschen schlicht die Unterscheidung zwischen happy und lucky?
Fragen stellen
Die Frage nach dem Glück bleibt im Roman letztlich ohne Antwort. Doch es ist gerade diese Frage, die den Motor für (menschliche) Beziehungen darstellt. Herr Herrmann findet keine statistischen Werte vor, sondern konkrete Menschen, die sich im Gespräch zum Fragenden in Beziehung setzen, aber auch zu sich selbst und der eigenen Lebenserzählung. Wer also nach dem Glück fragt, stellt, gewollt oder nicht, die Frage nach einem gelungenen Leben. Darin klingt das Konzept der Eudaimonie an, das bis in die Neuzeit im Mittelpunkt philosophischer und politischer Debatten stand. Und darin knüpfen auch jene Ratgeber an, die zu einem geglückten Leben führen sollen. Das also ist der Ausgangs- und Bezugspunkt des Glücks: Das konkrete Leben des Menschen als Beziehungsgeflecht zu anderen und anderem. So ist Glück auch der Kreuzungspunkt vom Ethischen und Politischen im Fragemodus. Wir alle kennen die Schatten, die dieser Kreuzungspunkt wirft: Glücksindustrien, die tagtäglich den Beweis antreten, dass Glück - zumindest mittelbar - eben doch käuflich ist. Politische Systeme, die vorgeben, worin das Streben nach Glück für alle Menschen zu gipfeln habe. Algorithmen, die glücklich machen, indem sie unbemerkt bestätigen und Irritationen vermeiden inmitten der Informationsblasen. Verschiedene Schattenwürfe, die immer auch dafür sorgen, dass manche im Licht stehen bleiben, andere im Dunkeln gehalten werden.
Bezüge herstellen
Entgegen der Trennung im Namen des Glücks kann Glück auch bedeuten, Bezüge herzustellen. „Was brauchen Sie zum Glück?" stand auf den Fragekarten, die im Bildungshaus Schloss St. Martin über mehrere Wochen von den Gästen ausgefüllt wurden. Die Frage ist zwiespältig. Ihr geht es nicht darum, was das Glück tatsächlich ist oder wozu es nützt. Sie zielt nicht auf Definitionen, sondern auf Bedürfnisse. Sie sagt dabei aber nicht „Das brauchen Sie!", denn sie ist weniger an Rezepten, mehr an Zutaten interessiert. Was stand nun auf den Kärtchen? Am häufigsten wurden dabei Gesundheit, (Zeit mit) Mitmenschen und Natur genannt. In allen drei Fällen geht es um gelungene, wertvolle Beziehungen eines Inneren zu sich selbst und zu einem Äußeren.
Diese Beziehungen zu reflektieren war das Ziel der ersten Glückstagung im Bildungshaus Schloss St. Martin Mitte März. Sie nahm den Zwiespalt auf und fragte:
Was braucht der Mensch zum Glück?
Michael Großschädl, Schauspieler im Next Liberty und Kabarettist, gestaltete den Einstieg am Vormittag. Er schuf auf spielerische Art einen Raum, in dem sich die Teilnehmer/innen bewusst aufeinander bezogen und achtsam aufeinander zugingen. Ihm folgte der interaktive Vortrag vom Glücksforscher, Emotionstrainer und Autor Manfred Rauchensteiner. Ganz in sokratischer Tradition lud Rauchensteiner dazu ein, eigene Denkmuster und Glaubenssätze kritisch zu hinterfragen. Denn gerade diese Muster hindern uns daran, Glück zu erfahren. An ganz konkreten Beispielen aus dem Alltag machte er deutlich, dass die Möglichkeit des Glücks in der Wahrnehmung auf uns selbst und unsere Mitwelt liegt. Rauchensteiners Vortrag regte dazu an, sich in einer hohen Kunst der Gelassenheit zu üben. Eine Gelassenheit, die im Gegensatz zu Trägheit auf Achtsamkeit fußt und die im Gegensatz zur Gleichgültigkeit auch Selbstverantwortung lehrt.
Der Nachmittag knüpfte an die Reflexion des Vormittags an. In drei Workshops gingen die TeilneherInnen ausgewählten Glücksquellen auf die Spur. Wolfgang Kubassa zeigte dabei Wege auf, wie Grenz- und Selbsterfahrungen in der Natur zum eigenen Glück beitragen können. Natalie Walter von Styria Vitalis widmete ihren Workshop der Frage, welchen Beitrag Ernährung - von der Auswahl der Zutaten bis hin zum Verzehr der Speisen - für ein glückliches Leben spielt. Der Autor dieser Zeilen wiederum fragte gemeinsam mit Manfred Rauchensteiner nach Bedingungen, unter denen Lernen eine Glückserfahrung sein kann.
Sinn - Entzug
Die Glückstagung ließ erahnen, dass unser Glück einerseits davon abhängt, ob wir unserem Denken, unserem Handeln und der Welt um uns einen Sinn zuweisen können. Sinn ist dabei Zweck, nicht Mittel; Sinn ist spür- und erfahrbar, aber schwer begründbar. Solange Sinn möglich ist, ist es das Glück auch. Andererseits hängt unser Glück auch von der Fähigkeit ab, die Entzogenheit des Möglichen zu akzeptieren. Dass eben nicht immer alles zu jederzeit in gewünschter Form möglich war und daher in diesem konkreten Moment anders ist, entzieht sich vielfach unserer Verantwortung. Das mag teilweise schmerzen, gewährt uns aber gleichzeitig eine gewisse Großzügigkeit, anderen und uns selbst mit Nachsicht zu begegnen. Irgendwo zwischen der Zufriedenheit mit dem Wirklichen und dem Vertrauen in das Mögliche liegt also dieses ominöse Glück. Vielleicht.
Glücksspuren
Glück, das zeigen Studien immer wieder, ist dann nachhaltig, wenn es Spuren bildet. Das flüchtige Glück lässt am Ende des Hochs eher Unglückliche zurück. Für Bildung gilt dasselbe: Die bloße Anhäufung von Wissen für den kurzen Moment der Wiedergabe hat wenig mit dem kritischen Selbst- und Weltverhältnis im Bildungsprozess zu tun. Welche Spuren die Denkanstöße und Einsichten der Glückstagung hinterlassen, bleibt ungewiss. Was aber in jedem Fall erhalten bleibt, sind die Glücksgesichter - Gesichter der Teilnehmenden, eingefangen von Peter Purgar (siehe Fotos).
„Wer unsere Gesellschaft verstehen will, muss Fragen stellen".
Eine Kurversion dieses Textes in der Glückszeitung gibt es hier